Bildquelle: http://www.zeitklicks.de/typo3temp/pics/ec75788278.jpg
An Affären war die
Bundesrepublik Deutschland trotz ihrer Jungfräulichkeit nicht arm. Da war der
Skandal um Otto John, dem
ersten deutschen Verfassungsschutzpräsidenten, der am 20. Juni 1954 spurlos
verschwindet und in Ost-Berlin, um gegen die Westpolitik Front zu machen,
zwei Tage später wieder auftaucht; dann der mysteriöse Tod der
Edelprostituierten
Rosemarie Nitribitt, die viele ihrer Kunden aus den höchsten Kreisen von
Politik und Wirtschaft rekrutierte; aber auch Katastrophen, wie der Untergang
der Viermastbark Pamir, den 80 Matrosen mit ihrem jungen Leben bezahlen müssen.
Mit der Spiegel-Affäre wurde im Oktober 1962 ein Prozess in Gang gesetzt, dessen Definition mit dem Schlagwort „Skandal“ nur vorsichtig umschrieben wird.
In der Ausgabe Nr. 41
vom 8. Oktober 1962 veröffentlichte das Hamburger Nachrichtenmagazin den aus
der Feder des stellvertretenden Chefredakteurs und Militärexperten Conrad
Ahlers stammenden Artikel „Bedingt abwehrbereit“. Gegenstand war das
NATO-Herbstmanöver „Fallex 62“ und die umstrittene Atompolitik der
Bundesregierung.
Auf siebzehn Seiten
befanden sich darin Ergebnisse einer NATO-Untersuchung, wonach die
Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Warschauer Pakt nicht abwehrfähig sei
und ein eventueller Angriff bestenfalls mit Hilfe westlicher Atomraketen
abgewehrt werden könne.
Das Manöver
wurde vor seiner eigentlichen Durchführung tagelang unter Beteiligung mehrerer
Generäle am Schreibtisch durchgespielt; ein Minister des Adenauer- Kabinetts übernahm
dabei die Rolle des „Bundeskanzlers“. Das Gesamtergebnis war katastrophal:
Im Ernstfall, so das Resultat, wären das Sanitätswesen und die
Lebensmittelversorgung sofort zusammengebrochen. Waffen und Soldaten waren
Mangelware. Beurteilung der Bundeswehr durch die NATO: „Zur Abwehr bedingt
geeignet“, zur damaligen Zeit die schlechteste Beurteilung, die einer
NATO-Armee ausgesprochen werden konnte.
Bundesrepublik
Deutschland, 1962. Der Gang des politischen Geschehens schien in übersichtlichen
und geordneten Bahnen zu verlaufen. Die BRD war der westliche Frontstaat des
Transatlantischen Militärbündnisses. Die frühere Reichshauptstadt Berlin
durchzog seit einem Jahr die durch die kommunistische Regierung von Deutschlands
Ostteil errichtete Mauer, die von den Bewohnern der DDR nur unter höchster
Lebensgefahr zu überwinden war. Im Oktober 1962 kam es zwischen den beiden Großmächten
schließlich zu einem wochenlangen Nervenkrieg um Fidel Castros Kuba. Die
westdeutsche Bevölkerung lebte dieser Spannungen wegen in ständiger Angst um
den erwirtschafteten bescheidenen Wohlstand und vor einem neuen Krieg. Daher ließ
sie – in Ermangelung individuellen politischem Engagements – dem greisen
Bundeskanzler Adenauer und dessen Truppe weitgehend freie Hand bei der Lenkung
des Staates.
Der 8. Oktober 1962
setze jedoch ein Datum, das dem Lauf der Dinge eine neue Richtung gab. An jenem
Montag erschien die Nummer 41 des Magazins, die noch am selben Tag die
Karlsruher Bundesanwaltschaft aufhorchen ließ. Dort entstand der Verdacht, dass
die Zeitschrift Staatsgeheimnisse publiziert und somit Landesverrat begangen
haben könnte.
Gerd Schmückle, damals Pressesprecher von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, reagiert, wie ein Großteil der Öffentlichkeit, gelassen auf den Artikel. Dennoch entschließt sich der hohe Militär, seinen Chef in dessen Urlaubsdomizil an der Côte d’ Azur noch am selben Tag aufzusuchen um ihm die Lektüre zuzuspielen. Strauß reagiert jedoch recht unwirsch, so dass Schmückle die Rückreise antritt. Auch Gerhard Wessel, Chef des Militärischen Abwehrdienstes (MAD), sieht keinen Handlungsbedarf.
Da war Friedrich August von der Heydte, Ordinarius für Völkerrecht an der Universität Würzburg, ganz anderer Meinung. Er hatte schon eine Woche vor Veröffentlichung des „Fallex“-Artikels Strafanzeige gegen den Spiegel erstattet und diese am 11. Oktober nach dem entsprechenden Artikel ergänzt. Die Folge war ein Ermittlungsverfahren gegen das Magazin, das sehr bald mehrere tausend Seiten umfasste.
Dem Verfahren geht
ein Kompetenzwirrwarr voraus. Bundesanwalt Kuhn sieht sich nicht in der Lage zu
beurteilen, was denn nun Geheimsache sei und was nicht. Kuhns Kollege Siegfried
Buback konsultiert das Amt für Sicherheit der Bundeswehr (ASBw), das an die
Strafrechtsabteilung im Bundesverteidigungsministerium verweist. Der dort zuständige
Oberregierungsrat Wunder, mit seiner Funktion erst seit wenigen Monaten betreut,
steht der Aufgabe ebenso hilflos gegenüber. So kommt erneut von der Heydte zum
Zug, der Wunder am 10. Oktober bei der Abfassung eines Gutachtens zur Hand geht,
das 41 Staatsgeheimnisse erkennen will, die im „Fallex“-Artikel publiziert
worden seien.
Aus seinem Urlaub am
15. Oktober zurückgekehrt forciert der Verteidigungsminister die Angelegenheit,
obgleich der Fall formell nicht in seinem Kompetenzbereich liegt.
Nach einer damals gültigen
Definition begeht derjenige Landesverrat, der „vorsätzlich ein
Staatsgeheimnis an einen Unbefugten gelangen lässt oder es öffentlich bekannt
macht“. Der Justizapparat hatte einen ziemlichen Spielraum bei der
Entscheidung darüber, ob ein Landesverrat in einem einschlägigen Fall auch
wirklich stattgefunden haben mag. Und Journalisten bewegten sich schon auf Grund
ihrer Profession nicht selten in einer Grauzone. Das hatte auch schon Max Güde,
früherer Generalbundesanwalt, erkannt, indem er feststellte, dass Journalisten
keineswegs dem Typus des Landesverräters entsprechen.
Am 23. Oktober tippt
Staatsanwalt Buback Haftbefehl und Durchsuchungsbeschluss auf seiner
Schreibmaschine. Zur selben Zeit erlässt Wolfgang Buddenberg,
Ermittlungsrichter und von 1937 an NSDAP-Mitglied, Haftbefehl gegen Augstein und
Konsorten.
Der 26. Oktober ist
Auftakt zur eigentlichen Aktion. Nach präziser Vorbereitung erfolgt gegen 21
Uhr die Besetzung der Redaktionsräume. Kriminalkommissar Schütz lässt mit
sieben Gefolgsleuten die Zentrale des Spiegel durchsuchen, um Beweise zu
sichern. Den Verleger Augstein finden die Staatsschützer jedoch nicht vor, da
dieser sein Büro vorzeitig verlassen hatte. Vergeblich verläuft auch die Suche
nach Conrad Ahlers, der sich zu dieser Zeit im spanischen Torremolinos sonnt.
Obgleich die Fahnder nicht gerade zimperlich mit den anwesenden Mitarbeitern
umgehen, werden ca. eine halbe Stunde später drei Überfallkommandos der
Polizei verständigt. Diesen gelingt in der darauffolgenden Nacht die Festnahme
der beiden Chefredakteure Claus Jacobi und Johannes K. Engel. Ahlers wird nebst
Gattin von der spanischen Polizei auf Anweisung von Strauß verhaftet. Tags
darauf wird Augstein in seiner Hamburger Wohnung dingfest gemacht.
Besonders auffällig
am biographischen Hintergrund der Beteiligten dieser Aktion: Die meisten Akteure
hatten sich ihre ersten „Sporen“ im Reich des Adolf Hitler verdient. Theo
Saevecke (starb 2000), in der Einsatznacht polizeilicher Verbindungsmann in
Bonn, diente einst als SS-Hauptsturmführer; dem Leipziger Jurastudenten
Siegfried Buback wurde von 1938 an eingetrichtert, was Landes- und Hochverrat
sei, und die Anweisungen in der Nacht der Nächte kamen von Volkmar Hopf,
seinerzeit Oberlandrat in der besetzten Tschechei, und von Seiten der SSHoHHO
Am Tag nach Augsteins
Festnahme wandte sich die öffentliche Haltung gegen das Vorgehen der Behörden
und damit vor allem gegen Strauß, den man sogleich als den Urheber ausmachte. Das
rigorose Verhalten der Regierung gegen den "Spiegel" ruft im In- und
Ausland eine Welle der Empörung hervor. Die Pressefreiheit steht auf dem Spiel.
Parallelen zum Nazi-Terror kommen auf: die Gleichschaltung der Presse und die
Verhaftung kritischer Journalisten. Verantwortliche anderer Hamburger Zeitungen
stellen Redaktionsräume und Druckmaschinen zur Verfügung, um das weitere
Erscheinen des "Spiegel" zu gewährleisten. Strauß jedoch
zeigt sich uneinsichtig, als er wider besseren Wissens verkündet: „Ich habe
mit der Sache nichts zu tun“. Eine Fragestunde im Bundestag am 7. November lässt
der Bayer schweigend an sich vorüberziehen. Doch das rettet ihn nicht: zwei
Tage darauf gibt er in einer Bundestagsdebatte zu, persönlich abseits aller
verfassungsmäßigen Schranken an Ahlers Verhaftung beteiligt gewesen sei.
Der
Fall Stammberger wird zur Regierungskrise: Am 19. November treten alle fünf
FDP-Minister aus der Regierung aus.
Vier Wochen nach
Beginn der Besetzung werden die Redaktionsräume des Spiegel den Mitarbeitern
wieder freigegeben, jedoch bleiben mehrere tausend Dokumente konfisziert.
Am 7. Februar 1963 öffneten
sich für Rudolf Augstein die Gefängnistore. 103 Tage Untersuchungshaft lagen
hinter dem später zum „Journalisten des Jahrhunderts“ gekürten Hamburger.
Augstein erklärte später, in der Gefangenschaft „gut behandelt“ worden zu
sein.
Fast zwei Jahre
danach fiel dem Bundesgerichtshof die Entscheidung über die 73-seitige
Anklageschrift zu. Diese beinhaltete den Verrat von 14 Staatsgeheimnissen und
stellt fest, dass durch deren Publikmachung „die Wirksamkeit der
Verteidigungsvorkehrungen schwer gefährdet“ gewesen wären.
Der 3. Strafsenat
jedoch entscheidet: das Hauptverfahren gegen Ahlers und Augstein wird aus Mangel
an Beweisen nicht eröffnet.
Kurz darauf
stellt die Staatsanwaltschaft Bonn fest, dass sich Strauß durch sein Verhalten
der Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung schuldig gemacht habe, jedoch keinerlei
Strafverfolgung ausgesetzt wird, da ein „Verbotsirrtum“ vorgelegen habe.
Das Ende der
Spiegel-Affäre und dem damit einhergehenden Strauß-Rücktritt hatte allgemeine
Erleichterung hervorgerufen. Nicht nur in der bundesdeutschen Öffentlichkeit,
sondern auch diesseits und jenseits aller politischen und geographischen
Grenzen.
Die Kennedy-Regierung
verhehlte nicht ihre Freude über den Rückzug des bayrischen Originals. Auch
Chruschtschow hoffte auf den Einsatz eines umgänglicheren Manns auf der Hardthöhe.
Doch wesentlich
bedeutsamer erscheint die Zäsur, die sich durch das Geschehen für das
politische Bewusstsein innerhalb der deutschen Bevölkerung gebildet hatte. Quer
durch alle Bevölkerungsschichten war ein deutlicher Einstellungswandel vom
Glauben an den allgegenwärtigen Obrigkeitsstaat hin zu einer lebendigen
Demokratie zu spüren. Spiegel-Titelbilder fanden sich auf den Heckscheiben von
Autos, unzählige Beistandsbekundungen erhielten Augstein und der Spiegel.
Professoren, Gewerkschafter, Publizisten und Vertreter der großen Kirchen taten
ihre Sicht der Dinge in landesweiten Demonstrationen und Diskussionsrunden kund.
Doch waren diese keineswegs „links“ angehaucht, sondern entstammten überwiegend
dem konservativem Spektrum.
In vielerlei Hinsicht
kann diese Protestwelle als Vorläufer jener aktionistischen Protestjugend
angesehen werden, die Jahre später das Gesicht der Bundesrepublik verändern
sollte.