Die Spiegel-Affäre

Ein Presse-Skandal und die junge Bundesrepublik

 

 

Bildquelle: LeMO-Objekt: Titelseite DER SPIEGEL "Bedingt abwehrbereit" (hdg.de)

 

Diese Ausgabe brachte den Stein ins Rollen

 

 

„Bedingt abwehrbereit"

Verlauf des Geschehens

Ausklang der Affäre

Die Folgen


„Bedingt abwehrbereit"

An Affären war die Bundesrepublik Deutschland trotz ihrer Jungfräulichkeit nicht arm. Da war der Skandal um Otto John, dem ersten deutschen Verfassungsschutzpräsidenten, der am 20. Juni 1954 spurlos verschwindet und in Ost-Berlin, um gegen die Westpolitik Front zu machen, zwei Tage später wieder auftaucht; dann der mysteriöse Tod der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt, die viele ihrer Kunden aus den höchsten Kreisen von Politik und Wirtschaft rekrutierte; aber auch Katastrophen, wie der Untergang der Viermastbark Pamir, den 80 Matrosen mit ihrem jungen Leben bezahlen müssen.  

Mit der Spiegel-Affäre wurde im Oktober 1962 ein Prozess in Gang gesetzt, dessen Definition mit dem Schlagwort „Skandal“ nur vorsichtig umschrieben wird.

In der Ausgabe Nr. 41 vom 8. Oktober 1962 veröffentlichte das Hamburger Nachrichtenmagazin den aus der Feder des stellvertretenden Chefredakteurs und Militärexperten Conrad Ahlers stammenden Artikel „Bedingt abwehrbereit“. Gegenstand war das NATO-Herbstmanöver „Fallex 62“ und die umstrittene Atompolitik der Bundesregierung. 

Auf siebzehn Seiten befanden sich darin Ergebnisse einer NATO-Untersuchung, wonach die Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Warschauer Pakt nicht abwehrfähig sei und ein eventueller Angriff bestenfalls mit Hilfe westlicher Atomraketen abgewehrt werden könne.

Das Manöver wurde vor seiner eigentlichen Durchführung tagelang unter Beteiligung mehrerer Generäle am Schreibtisch durchgespielt; ein Minister des Adenauer- Kabinetts übernahm dabei die Rolle des „Bundeskanzlers“. Das Gesamtergebnis war katastrophal: Im Ernstfall, so das Resultat, wären das Sanitätswesen und die Lebensmittelversorgung sofort zusammengebrochen. Waffen und Soldaten waren Mangelware. Beurteilung der Bundeswehr durch die NATO: „Zur Abwehr bedingt geeignet“, zur damaligen Zeit die schlechteste Beurteilung, die einer NATO-Armee ausgesprochen werden konnte.

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Verlauf des Geschehens

Bundesrepublik Deutschland, 1962. Der Gang des politischen Geschehens schien in übersichtlichen und geordneten Bahnen zu verlaufen. Die BRD war der westliche Frontstaat des Transatlantischen Militärbündnisses. Die frühere Reichshauptstadt Berlin durchzog seit einem Jahr die durch die kommunistische Regierung von Deutschlands Ostteil errichtete Mauer, die von den Bewohnern der DDR nur unter höchster Lebensgefahr zu überwinden war. Im Oktober 1962 kam es zwischen den beiden Großmächten schließlich zu einem wochenlangen Nervenkrieg um Fidel Castros Kuba. Die westdeutsche Bevölkerung lebte dieser Spannungen wegen in ständiger Angst um den erwirtschafteten bescheidenen Wohlstand und vor einem neuen Krieg. Daher ließ sie – in Ermangelung individuellen politischem Engagements – dem greisen Bundeskanzler Adenauer und dessen Truppe weitgehend freie Hand bei der Lenkung des Staates.

Der 8. Oktober 1962 setze jedoch ein Datum, das dem Lauf der Dinge eine neue Richtung gab. An jenem Montag erschien die Nummer 41 des Magazins, die noch am selben Tag die Karlsruher Bundesanwaltschaft aufhorchen ließ. Dort entstand der Verdacht, dass die Zeitschrift Staatsgeheimnisse publiziert und somit Landesverrat begangen haben könnte.

Gerd Schmückle, damals Pressesprecher von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, reagiert, wie ein Großteil der Öffentlichkeit, gelassen auf den Artikel. Dennoch entschließt sich der hohe Militär, seinen Chef in dessen Urlaubsdomizil an der Côte d’ Azur noch am selben Tag aufzusuchen um ihm die Lektüre zuzuspielen. Strauß reagiert jedoch recht unwirsch, so dass Schmückle die Rückreise antritt. Auch Gerhard Wessel, Chef des Militärischen Abwehrdienstes (MAD), sieht keinen Handlungsbedarf.

Da war Friedrich August von der Heydte, Ordinarius für Völkerrecht an der Universität Würzburg, ganz anderer Meinung. Er hatte schon eine Woche vor Veröffentlichung des „Fallex“-Artikels Strafanzeige gegen den Spiegel erstattet und diese am 11. Oktober nach dem entsprechenden Artikel ergänzt. Die Folge war ein Ermittlungsverfahren gegen das Magazin, das sehr bald mehrere tausend Seiten umfasste. 

Dem Verfahren geht ein Kompetenzwirrwarr voraus. Bundesanwalt Kuhn sieht sich nicht in der Lage zu beurteilen, was denn nun Geheimsache sei und was nicht. Kuhns Kollege Siegfried Buback konsultiert das Amt für Sicherheit der Bundeswehr (ASBw), das an die Strafrechtsabteilung im Bundesverteidigungsministerium verweist. Der dort zuständige Oberregierungsrat Wunder, mit seiner Funktion erst seit wenigen Monaten betreut, steht der Aufgabe ebenso hilflos gegenüber. So kommt erneut von der Heydte zum Zug, der Wunder am 10. Oktober bei der Abfassung eines Gutachtens zur Hand geht, das 41 Staatsgeheimnisse erkennen will, die im „Fallex“-Artikel publiziert worden seien.

Aus seinem Urlaub am 15. Oktober zurückgekehrt forciert der Verteidigungsminister die Angelegenheit, obgleich der Fall formell nicht in seinem Kompetenzbereich liegt.

Nach einer damals gültigen Definition begeht derjenige Landesverrat, der „vorsätzlich ein Staatsgeheimnis an einen Unbefugten gelangen lässt oder es öffentlich bekannt macht“. Der Justizapparat hatte einen ziemlichen Spielraum bei der Entscheidung darüber, ob ein Landesverrat in einem einschlägigen Fall auch wirklich stattgefunden haben mag. Und Journalisten bewegten sich schon auf Grund ihrer Profession nicht selten in einer Grauzone. Das hatte auch schon Max Güde, früherer Generalbundesanwalt, erkannt, indem er feststellte, dass Journalisten keineswegs dem Typus des Landesverräters entsprechen.

Am 23. Oktober tippt Staatsanwalt Buback Haftbefehl und Durchsuchungsbeschluss auf seiner Schreibmaschine. Zur selben Zeit erlässt Wolfgang Buddenberg, Ermittlungsrichter und von 1937 an NSDAP-Mitglied, Haftbefehl gegen Augstein und Konsorten.

Der 26. Oktober ist Auftakt zur eigentlichen Aktion. Nach präziser Vorbereitung erfolgt gegen 21 Uhr die Besetzung der Redaktionsräume. Kriminalkommissar Schütz lässt mit sieben Gefolgsleuten die Zentrale des Spiegel durchsuchen, um Beweise zu sichern. Den Verleger Augstein finden die Staatsschützer jedoch nicht vor, da dieser sein Büro vorzeitig verlassen hatte. Vergeblich verläuft auch die Suche nach Conrad Ahlers, der sich zu dieser Zeit im spanischen Torremolinos sonnt. Obgleich die Fahnder nicht gerade zimperlich mit den anwesenden Mitarbeitern umgehen, werden ca. eine halbe Stunde später drei Überfallkommandos der Polizei verständigt. Diesen gelingt in der darauffolgenden Nacht die Festnahme der beiden Chefredakteure Claus Jacobi und Johannes K. Engel. Ahlers wird nebst Gattin von der spanischen Polizei auf Anweisung von Strauß verhaftet. Tags darauf wird Augstein in seiner Hamburger Wohnung dingfest gemacht.

Besonders auffällig am biographischen Hintergrund der Beteiligten dieser Aktion: Die meisten Akteure hatten sich ihre ersten „Sporen“ im Reich des Adolf Hitler verdient. Theo Saevecke (starb 2000), in der Einsatznacht polizeilicher Verbindungsmann in Bonn, diente einst als SS-Hauptsturmführer; dem Leipziger Jurastudenten Siegfried Buback wurde von 1938 an eingetrichtert, was Landes- und Hochverrat sei, und die Anweisungen in der Nacht der Nächte kamen von Volkmar Hopf, seinerzeit Oberlandrat in der besetzten Tschechei, und von Seiten der SSHoHHO als „politisch gefestigt“ beurteilt.

Am Tag nach Augsteins Festnahme wandte sich die öffentliche Haltung gegen das Vorgehen der Behörden und damit vor allem gegen Strauß, den man sogleich als den Urheber ausmachte. Das rigorose Verhalten der Regierung gegen den "Spiegel" ruft im In- und Ausland eine Welle der Empörung hervor. Die Pressefreiheit steht auf dem Spiel. Parallelen zum Nazi-Terror kommen auf: die Gleichschaltung der Presse und die Verhaftung kritischer Journalisten. Verantwortliche anderer Hamburger Zeitungen stellen Redaktionsräume und Druckmaschinen zur Verfügung, um das weitere Erscheinen des "Spiegel" zu gewährleisten. Strauß jedoch zeigt sich uneinsichtig, als er wider besseren Wissens verkündet: „Ich habe mit der Sache nichts zu tun“. Eine Fragestunde im Bundestag am 7. November lässt der Bayer schweigend an sich vorüberziehen. Doch das rettet ihn nicht: zwei Tage darauf gibt er in einer Bundestagsdebatte zu, persönlich abseits aller verfassungsmäßigen Schranken an Ahlers Verhaftung beteiligt gewesen sei.

FDP-Justizminister Wolfgang Stammberger war über das Vorgehen der Bundesanwaltschaft nicht informiert gewesen. Als Erklärung diente der Hinweis auf von Stammberger während dessen Tätigkeit als Leutnant der Wehrmacht begangene Straftaten. Daher, so die Argumentation, wäre er nicht vertrauenswürdig, zumal der "Spiegel" im Besitz von einschlägigen Dokumenten sei. Tatsächlich räumte Stammberger später ein, in einem Militärstrafverfahren verurteilt worden zu sein, dies aber bei seiner Ernennung zum Bundesjustizminister nicht kundgetan zu haben.

Der Fall Stammberger wird zur Regierungskrise: Am 19. November treten alle fünf FDP-Minister aus der Regierung aus.

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Ausklang der Affäre

Vier Wochen nach Beginn der Besetzung werden die Redaktionsräume des Spiegel den Mitarbeitern wieder freigegeben, jedoch bleiben mehrere tausend Dokumente konfisziert.

Am 7. Februar 1963 öffneten sich für Rudolf Augstein die Gefängnistore. 103 Tage Untersuchungshaft lagen hinter dem später zum „Journalisten des Jahrhunderts“ gekürten Hamburger. Augstein erklärte später, in der Gefangenschaft „gut behandelt“ worden zu sein.

Fast zwei Jahre danach fiel dem Bundesgerichtshof die Entscheidung über die 73-seitige Anklageschrift zu. Diese beinhaltete den Verrat von 14 Staatsgeheimnissen und stellt fest, dass durch deren Publikmachung „die Wirksamkeit der Verteidigungsvorkehrungen schwer gefährdet“ gewesen wären.

Der 3. Strafsenat jedoch entscheidet: das Hauptverfahren gegen Ahlers und Augstein wird aus Mangel an Beweisen nicht eröffnet. 

Kurz darauf stellt die Staatsanwaltschaft Bonn fest, dass sich Strauß durch sein Verhalten der Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung schuldig gemacht habe, jedoch keinerlei Strafverfolgung ausgesetzt wird, da ein „Verbotsirrtum“ vorgelegen habe.

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Die Folgen

Das Ende der Spiegel-Affäre und dem damit einhergehenden Strauß-Rücktritt hatte allgemeine Erleichterung hervorgerufen. Nicht nur in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, sondern auch diesseits und jenseits aller politischen und geographischen Grenzen.

Die Kennedy-Regierung verhehlte nicht ihre Freude über den Rückzug des bayrischen Originals. Auch Chruschtschow hoffte auf den Einsatz eines umgänglicheren Manns auf der Hardthöhe.

Doch wesentlich bedeutsamer erscheint die Zäsur, die sich durch das Geschehen für das politische Bewusstsein innerhalb der deutschen Bevölkerung gebildet hatte. Quer durch alle Bevölkerungsschichten war ein deutlicher Einstellungswandel vom Glauben an den allgegenwärtigen Obrigkeitsstaat hin zu einer lebendigen Demokratie zu spüren. Spiegel-Titelbilder fanden sich auf den Heckscheiben von Autos, unzählige Beistandsbekundungen erhielten Augstein und der Spiegel. Professoren, Gewerkschafter, Publizisten und Vertreter der großen Kirchen taten ihre Sicht der Dinge in landesweiten Demonstrationen und Diskussionsrunden kund. Doch waren diese keineswegs „links“ angehaucht, sondern entstammten überwiegend dem konservativem Spektrum.

In vielerlei Hinsicht kann diese Protestwelle als Vorläufer jener aktionistischen Protestjugend angesehen werden, die Jahre später das Gesicht der Bundesrepublik verändern sollte.

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